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Bücher sind so viel mehr, als nur Buchstaben auf Papier. Sie zeigen uns, wie Menschen sind, in all ihren Facetten, sie kritisieren subtil oder auch offensichtlich, sie stellen in Frage und in Aussicht und manchmal, wenn man sie lässt, verändern sie unser Denken und Fühlen, die Augen, mit denen wir auf die Welt schauen. Das Faszinierende dabei: Jedes Buch, ist für jeden Leser und jede Leserin ein anderes. Und hier kannst du entdecken, was diese Bücher für mich sind; oder waren. In dem Moment, als ich sie gelesen habe. 

Tess – Thomas Hardy

Manche Bücher atme ich regelrecht weg. Ich schlage die erste Seite auf und klappe das gute Stück erst wieder zu, wenn auch die letzte gelesen ist. Leichte Kost, gut schmeckend und liegt nicht schwer im Magen. Regelrechte Literatur-Völlerei. 
Und dann gibt es Bücher wie Tess. Bücher, die ich mittendrin zur Seite lege. Weil ich es nicht ertragen kann, weiterzulesen. Aus Angst vor dem nächsten Kapitel. Bücher, die mir beim Lesen Steine in den Magen legen und ihre eigenen Wunden auf meine Seele übertragen. Die meinen Gerechtigkeitssinn in den Burn-Out treiben. 
Zu seiner Zeit, war Tess ein absoluter Skandal. Das Buch stellt die damalige Kirche an den Pranger und ihren Einfluss auf das Welt- und vor allem Frauenbild. Es nimmt den Mann in die Verantwortung für seine Taten und stellt die unfassbar zermürbenden Schuldfragen: Wie eine Person die Schuld an dem Unrecht tragen kann, dass ihr von einer anderen zugefügt wird. Warum die Schandtat der einen zum Brandzeichen der anderen wird. Warum Täter geschützt und schuldlose Schutzbedürftige bestraft werden. Warum Menschen glauben, Vergebung zu verdienen, ohne bereit zu sein, sie selbst auch zu erteilen. Und vor allem: Warum Betroffene vor Schuldgefühlen nicht mehr leben können, während die Täter vor Selbstüberzeugung trotzend und mit sich und der Welt zufrieden weiter durch ihr Leben stolzieren. 
Es stellt die Frage danach, ob zu vielen Menschen Macht gegeben wurde, die sie nicht verdienen und warum wir bereit sind, ungerechte, unterdrückende und zerstörende Systeme zu akzeptieren und zu pflegen, solange wir dabei gut weg kommen. 
Tess ist ein Buch, das seiner Zeit voraus war und trotzdem noch heute aktuell ist. In manchen Kontexten noch immer als trauriger Aufschrei, in anderen als Mahnmal, das daran erinnert, Gerechtigkeit zu bewahren. 
In meinen Augen ist dieses Buch wichtig. Es bringt in mir neu Dankbarkeit hervor, in eine bestimmte Zeit und Kultur hineingeboren worden zu sein. Und gleichzeitig erinnert es mich daran, dass die Zeit, sich zufrieden zurück zu lehnen, erst dann gekommen ist, wenn jede Frau dieser Welt dasselbe sagen kann.  

Die Kunst, kein Egoist zu sein - R. D. Precht

Nur ein Lebewesen, das ein Verständnis für sein Selbst hat, kann auch ein Gefühl dafür entwickeln, wie mit ihm umgegangen werden soll. Apparently. So hab ich zumindest R. D. Precht verstanden. Ich muss also wissen, wer ich bin, um begreifen zu können, wie ich behandelt werden möchte. Und um zu erkennen, wann ich auf eine Weise behandelt werde, die ich nicht verdiene. Selbstwert kommt mit Selbsterkenntnis. Ich kann erst wissen, was ich wert bin, wenn ich gelernt habe, mich selbst zu akzeptieren. 

Also lass aufhören, nach den Dingen zu suchen, die wir meinen, sein zu müssen. Such nach dem, was du bist und lerne es lieben. Du bist der erste Tyrann, dem es die Stirn zu bieten gilt und von da an allen anderen. Steh auf und für deine Seele ein. Und wenn du mal ein Backup brauchst, weil du dich nicht alleine traust, weißt du, wo du mich finden kannst.

Romulus der Große - F. Dürrenmatt

Ich liebe Dürrenmatt. Er besitzt diese unglaubliche Fähigkeiten, Figuren zu erschaffen, über die man sich schnell eine Meinung bildet, die beinahe einfältig einfach zu durchschauen scheinen, jedoch gegen Ende einer jeden Geschichte ihre wahren Motive aufdecken und den zu schnell urteilenden Leser eines Besseren belehren. Egal ob "Der Besuch der alten Dame", "Die Physiker" oder "Romulus" - Dürrenmatt bleibt der Meister der Hidden Agenda. Seine Hauptfiguren scheinen anfangs grotesk, nicht selten ist man geneigt, sie zu unterschätzen, doch stehen sie zum Ende der Lektüre als die manipulativen Meister der Geschichte da, die das gesamte Umfeld in dem von ihnen geschriebenen Drama haben tanzen lassen. Trotzdem enden die Geschichten nie in einem Triumph, da die Opfer, die für das vermeintliche Recht gebracht wurden, die Grenzen zwischen Gerechtigkeit und Unrecht verschwimmen lassen. Moral wird hinterfragt, dekonstruiert und als subjektiv entlarvt. Versteckt in der entfremdeten antiken Komödie kritisiert Dürrenmatt dabei politische und gesellschaftliche Wellen, die sich wie ein Silberfaden durch die Geschichte der Menschheit ziehen: Die Sinnlosigkeit des Krieges, bei dem es niemals einen Sieger und immer nur Verlierer geben kann, die menschliche Gier nach Einfluss und dass der Mensch für Macht und Wohlstand bereit ist, seine Seele zu verkaufen und die seines Nachbarn allemal. 

So taucht im zweiten Akt ein lange verschollener Soldat auf, der Jahre in germanischer Kriegsgefangenschaft verbracht  und die unvorstellbarsten Qualen erlitten hat. Sowohl dessen Gemahlin, als auch der Innenminister reagieren mit Entsetzen auf die Erscheinung des Rückkehrers. Dieser antwortet daraufhin jedoch nur trocken: "Dann eilen Sie an die Front, sonst ist Ihre Erschütterung Luxus." 

In einem Zeitalter von "Black Lives Matter" und "Me Too", in einer Zeit, in der Obdachlose und Flüchtlingsheime angezündet werden und Frauen unter Lebensgefahr Kopftücher verbrennen, stellt sich mir aufs Neue die Frage, ob wir uns den Luxus bloßer Erschütterung wirklich leisten können.

Momo - M. Ende 

Ich mag gute Kinderbücher, weil sie so tiefe Wahrheiten erzählen. Manche dunkle, manche gute aber vor allem einfach Wahrheiten. Momentaufnahmen des Lebens, wie es ist oder sein sollte. Und tatsächlich habe ich sogar manchmal das Gefühl, dass Kinderbücher die größten aller Gesellschaftskritiker sind...ohne, dass wir es merken. Was mich an Momo so fasziniert, ist, wie treffsicher diese Geschichte in unsere Zeit hineinspricht - selbst 50 Jahre nach ihrer Erscheinung. Zeit. Was ist das eigentlich? Wie fühlt man, wie bewertet man sie? Was ist dir deine Zeit wert? Wie schätzt man seine Zeit wert? 

Ich glaube, wir denken oft, seine Zeit zu schätzen, gut mit der Zeit, die einem gegeben wurde, umzugehen, bedeutet, möglichst alles aus ihr heraus zu holen. Doch wenn wir alles aus unserer Zeit herausholten, wäre sie dann nicht leer? Ganz ausgedünnt? Wir glauben, der Zeit einen Wert beizumessen hieße, sie auszusaugen. Und danach fragen wir uns, warum uns das, was danach übrig bleibt, nicht mehr schmeckt. Warum das, was unsere Zeit dann ist, so furchtbar unbefriedigend ist. Denn vielleicht heißt, die Zeit zu schätzen, sie einfach zu betrachten. Sie ihrer selbst wegen lieb zu haben. Vielleicht bedeutet es, sie nicht nur zu benutzen, sondern sie zu leben. Was siehst du, wenn du deine Zeit betrachtest? Wie fühlt sie sich an? Welche Stimme hat sie, welche Farben? Darf sie auch existieren, wenn sie nicht starr ein Ziel verfolgt? Denn - ist nicht die Zeit selbst ihr eigenes Ziel? 

Der Junge im gestreiften Pyjama –
J. Boyne 

Ist es nicht eigenartig, dass uns Leid erst dann wirklich trifft, wenn es Gesicht und Namen hat? Und manchmal nicht einmal dann. Manches Leid scheint uns erst dann zu berühren, wenn es uns direkt betrifft. Ist das nicht egoistisch? Tausende namen- und gesichtslose Wesen können zugrunde gehen und es rührt uns nicht, manche Dinge passieren eben. Aber passierte dasselbe uns oder unseren Nächsten... was wären wir schockiert. Und ja, man kann nicht das Leid der ganzen Welt tragen und retten kann man sie erst recht nicht. Aber wann ist es Normalität geworden, dass es uns so viel besser geht als anderen und nichts daran geändert wird? Wann haben wir unsere Privilegien als etwas verbucht, das uns zusteht, weil wir....ja, weil wir was? Im richtigen Land zur richtigen Zeit geboren wurden? Was haben wir dafür getan? Mit welchem Schweiß haben wir uns das erarbeitet? Und doch meinen wir, es verdient zu haben und andere eben nicht. Sonst würden sie doch in einer vergleichbaren Realität leben, oder etwa nicht? Ein jeder ist doch seines Glückes Schmied. Und manche sind dafür gemacht, besser dran zu sein und andere eben nicht. Wer nichts an seiner Lage ändert, hat auch keine andere Lage verdient. Wer keinen Krieg will, soll keinen Krieg machen. Wer Gerechtigkeit will, soll für Gerechtigkeit sorgen. Wer Reichtum will, soll sich Reichtum erarbeiten.

 

Denke ich und packe mein Portemonnaie ein, das mir zum Geburtstag geschenkt wurde, und in dem meine Krankenversicherten-Karte schlummert, dank der ich mir keine Sorgen machen muss, wie ich meine nächste Behandlung bezahlen soll. Eine Notification auf meinem Smartphone erinnert mich daran, dass meine Steuerrückzahlung gerade auf mein Konto überwiesen wurde. Auf dem Heimweg schaue ich noch schnell bei meiner Pizzeria des Vertrauens vorbei, denn heute habe ich einfach keine Lust zu kochen - nach einem anstrengenden Tag muss man schon mal auf sich selbst achten. Apropos, eigentlich könnte ich auch mal wieder eine Massage vertragen, ich fühle mich in letzter Zeit so angespannt... Ich schau mal bei meinem Orthopäden vorbei, vielleicht verschreibt der mir ja ein paar, dann muss ich da wenigstens nicht für zahlen. Wäre ja noch schöner, schließlich habe ich mir ja nicht ausgesucht, verspannt zu sein... 

Der Vorleser –
B. Schlink 

Werden wir an der Schuld anderer zu Mitschuldigen? Bin ich für die Taten der Menschen verantwortlich, die ich liebe, selbst dann, wenn ich nichts von ihrem Handeln wusste? Selbst dann, wenn ihr Handeln vor meiner Zeit lag? Gibt es Taten, die so schwer schuldig wiegen, dass sie von ihren Handelnden niemals abgelegt werden dürfen? Dass sie für immer brandmarken müssen? Und darf Unwissenheit als Verteidigung gelten? 

Die Frage nach Schuld und Schuldigkeit ist es, die mir hängen geblieben ist - sogar noch vor der abstrusen Darstellung von Liebe... wenn man es als solche überhaupt bezeichnen kann. Die Frage danach, wie hart Moral sein muss. Ob sie Erbarmen zeigen darf oder ob man damit dem Leid der Betroffenen die Schwere nimmt. Ob die Schuld geliebter Menschen auf mich übertragen wird - weil ich sie geliebt und sie dadurch nicht gestraft habe. Und letztendlich, ob man Menschen, die aus Überforderung und Unwissenheit heraus schuldig handelten, Absolution erteilen darf. Denn ist der Schaden nicht trotzdem entstanden? Das Trauma der Betroffenen wird nicht weggewischt, die Erinnerung nicht leichter, da die Täter es doch nicht besser wussten. Und wussten sie es in der Tat nicht besser? Wie blind kann der Mensch sich stellen, um beim Anblick des erschütterndsten Unrechts noch zu sagen, er wüsste nicht, was vor sich gehe? Und doch kann der Mensch sich verändern, entwickeln, kann Reue zeigen und Verständnis erlangen. Und doch muss ich mich von dem Handeln anderer distanzieren dürfen. Zuneigung zu zeigen, heißt nicht, Handeln zu billigen. Muss ich die Erlaubnis der Opfer erbitten, die Täter lieben zu dürfen? Und macht Vergeltung wiederum selbst zum Täter? 

In der paradoxen Komplexität der Problematik widerstrebt es mir, ein Urteil zu fällen, einen Standpunkt einzunehmen. Denn mein Gefühl sagt mir, es laufe auf die eine Frage hinaus: 

Ist der Mensch mehr, als sein Handeln oder ist sein Handeln die Summe seines Seins? 

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